Rational mit "Gefrorenen Bedürfnissen" umgehen 

Von Charlotte Lowrey

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Das Verständnis davon, dass wir "gefrorene" Bedürfnisse haben, war lange Zeit ein Teil der NC-Theorie, aber ich glaube, dass sie viel bedeutsamer sind, als wir angenommen haben. Vor kurzem begann ich zu mutmaßen, dass vieles von dem, was unser chronisches Material aufrecht erhält, von nicht entlasteten gefrorenen Bedürfnissen stammt. So lade ich euch also dazu ein, über sie nachzudenken und mir eure Einsichten und Erfahrungen mitzuteilen.

Gefrorene Bedürfnisse sind definiert als jedes unerfüllte Bedürfnis, das während einer Schmerzerfahrung gegenwärtig war und folgerichtig ein Teil der Schmerzaufzeichnung wurde (weil alles, was auch immer während der Dauer des Erfahrung passiert, genau aufgezeichnet worden ist). Da Menschen viele rationale Bedürfnisse haben, ist die Möglichkeit ziemlich hoch, dass einige von ihnen nicht befriedigt wurden und Teil einer Schmerzaufzeichnung wurden. Es ist wahrscheinlich, dass einige dieser unerfüllten Bedürfnisse Teil der frühen Aufzeichnungen wurden, die die Grundlage für unsere chronischen Muster bilden. Als erwachsene Menschen haben wir immer noch dieselben rationalen Bedürfnisse, jedoch ohne die extreme Abhängigkeit von anderen, die ein notwendiger Bestandteil dafür ist, dass wir als Babys und kleine Kinder unsere Bedürfnisse befriedigt bekommen. Einige unserer rationalen Bedürfnisse scheinen folgende zu sein: gute Ernährung, Bewegung, Wärme und Nähe, Berührung, zu lieben und geliebt zu werden, Schlaf, Luft, Wasser, Ruhe, Alleinsein, sich mitzuteilen, und Sinn und Wirkung in unserem Leben zu haben. Das Bedürfnis, unsere Verletzungen zu entlasten, und, während wir sie entlasten, die volle, entspannte Aufmerksamkeit von jemandem zu haben, scheint eine weitere Anforderung zu sein. (Siehe "Die Rationalen Bedürfnisse der Menschen" in The Upward Trend.)

Es gibt eine stete Versuchung, diesen aufgezeichneten Teilen Aufmerksamkeit zu schenken, die Dinge sagen wie: "Ich brauche Essen", "Ich brauche Aufmerksamkeit", "Ich brauche Liebe", "Ich brauche es, berührt zu werden", "Ich brauche jemanden, der für mich da ist". Diese Aufzeichnungen nehmen viel von unserer Zeit, mischen sich in die meisten unserer Beziehungen ein, und lassen uns in großer Verwirrung darüber zurück, was wir tatsächlich in der Gegenwart brauchen, weil wir noch nach etwas schauen, was uns vor zwanzig oder vierzig oder mehr Jahren fehlte. Diese alten Bedürfnisse sind nicht erfüllbar. Was aufgezeichnet wurde, war ein Gefühl der Bedürftigkeit, die unerfüllten Bedürfnisse zu erfüllen. Und das kann nur entlastet, nicht erfüllt werden. Offenbar haben viele unserer gefrorenen Bedürfnisse mit Versuchen zu tun, elterliche Fürsorge ("parenting") für uns zu finden. Wir können nicht zurück gehen und diese elterliche Fürsorge bekommen, die wir als junge Menschen nicht erhielten. Die meisten unserer Anstrengungen bezüglich anderer Leute und unser Bemühen, intime Beziehungen in unserm Leben herzustellen, beruhen auf unserer unbewußten Suche nach elterlicher Fürsorge, die wir nie erhielten.

 Was zuerst angeschaut werden muss, ist, dass wir es niemals erhalten werden, was immer "es" ist. Der Herzschmerz, das Verlangen, der Mangel kann nur gefühlt werden, immer wieder, bis das gefrorene Verlangen durch das Entlasten schmilzt und fortfließt. Unsere wiederholten Versuche, sie zu erfüllen, ob durch eine Person oder eine Substanz wie Essen oder eine Droge, haben dem ursprünglichen Schmerz Lagen von Enttäuschung, Groll und auch neuen Schmerz hinzugefügt. All diese Gefühle – Verlangen, Hoffnung, Enttäuschung, Groll, Verlust, Einsamkeit – können an irgendjemanden (oder irgendetwas) angeheftet werden, insbesondere an jemanden, der zu versprechen scheint, den alten leeren Raum (unserer EhegattInnen, LiebhaberInnen, Familienmitglieder, Co-CounselerInnen, usw.) zu füllen. Es gibt kein Zurück zur verlorenen Gelegenheit, zu dem Moment, in dem du etwas brauchtest und es sich nie verwirklichte. In einiger Hinsicht ist das Arbeiten an gefrorenen Bedürfnissen ähnlich dem Arbeiten angesichts eines Todes – alles, was du tun kannst, ist, Adieu zu sagen und den Verlust zu betrauern.

 Es ist auch möglich, die Entlastung in diesem Bereich durch zeitweiliges "Übererfüllen" des gefrorenen Bedürfnisses, zu beginnen. Wir können Fragen stellen, wie: "Was wäre, wenn deine Mutter fähig gewesen wäre, dich bedingungslos zu lieben?" Es ist ein machtvoller Widerspruch, der immer wieder genutzt werden kann, über einen Moment zu berichten, in dem die Dinge absolut perfekt waren, gerade so wie du es dir immer erträumt hast, das sie sein könnten. "Wie würde der Rest deines Lebens ausgesehen haben, wenn diese wundervolle Zeit angedauert hätte, wenn es für immer so gewesen wäre?" Wir können die/den KlientIn in unserem Schoß halten und dieser vernünftige Elternteil sein, den sie/er nie hatte. Es ist wichtig, sich so klar wie möglich darüber zu sein, wonach sich die/der KlientIn immer gesehnt hat und zu versuchen, es so genau herzustellen wie wir können.

 Ab einem bestimmten Punkt jedoch ist es nötig, den machtvollen Schritt zu tun, die Tür für immer zu schließen, wissend, dass die Vergangenheit vergangen ist, und dass wir wirklich nichts verloren haben, was wir jemals hatten. Die Richtung von Kraft liegt darin, wegzugehen und nicht zurückzuschauen, zu entscheiden, die Suche für immer aufzugeben. In Wirklichkeit ist es sehr befreiend, nicht durch die Suche getrieben zu sein, nicht länger gezwungen zu sein, "vor dem verlassenen Hasenbau Warte zu stehen", wie Harvey es einst ausdrückte.

 Ich vermute, weil wir so abhängig waren, als die meisten unserer gefrorenen Bedürfnisse festgelegt wurden, ist es Teil dessen, was sich so schwierig anfühlt, die Hoffnung aufzugeben, jemand würde endlich bemerken und verstehen, was wir brauchen. Es scheint extrem enttäuschend zu sein, dass unser/e EhepartnerIn oder Co-CounselerIn nicht erfassen kann, dass etwas nicht stimmt, ohne dass wir es ihm/r sagen, dass er/sie nicht mittels "Radar" verstehen können, was wir brauchen. Oftmals agieren wir unsere Bedürfnisse aus, anstatt um ihre Erfüllung zu bitten; wir senden Signale aus, die uns unmissverständlich scheinen, obwohl sie nie ihr Ziel zu erreichen scheinen. Vielleicht benutzen wir manchmal keine Worte, weil sich die inneren Aufzeichnungen bildeten, bevor wir sprechen lernten. Vielleicht ist es so, weil wir ängstlich sind, die andere Person zu verlieren, wenn wir tatsächlich unsere Wünsche offen legen, oder wir sind ängstlich, schon wieder enttäuscht zu werden, dann scheint das Fragen wie eine Falle („set-up“) zu sein. Was immer der "Grund" hinter dem Verhaltensmuster ist, das gefrorene Bedürfnis, intuitiv verstanden zu werden, muss ebenfalls aufgegeben werden. Es ist ein Traum, der uns in Kraftlosigkeit gestrandet zurücklässt.

 Gefrorene Bedürfnisse lassen unsere alten Enttäuschungen weiter bestehen. Ein Dilemma scheint zu sein, dass wir voneinander dafür enttäuscht sind, dass wir Enttäuschungen haben. Das, so glaube ich, steht in Bezug dazu, ärgerlich über unsere Eltern zu sein, dafür, dass sie Schmerzerfahrungen haben und nicht rational sind. Uns gegenseitig für die Kämpfe, die wir führen, zu beschuldigen oder mit unseren KlientInnen ungeduldig zu werden, ist natürlich nicht hilfreich. Als KlientInnen unsere CounselerInnen darin zu trainieren, in dieser Hinsicht hilfreich zu sein, ist es auch Teil davon, eine kraftvolle Haltung gegen das Zerren des gefrorenen Bedürfnisses einzunehmen. Das gefrorene Bedürfnis abzuwarten, bis die CounselerInnen es bemerken - um uns dann natürlich enttäuscht fühlen! Warten ist eines der Signale, die wir in diesem Bereich lernen sollten, zu beachten - wenn wir abwarten ist es ein gefrorenes Bedürfnis.

 Hier die Fähigkeit zu entwickeln zu counseln, scheint entscheidend zu sein. Eine Idee, die ich ausprobiert habe, ist eine Abwandlung der alten Technik, Furcht zu verachten, aber in diesem Fall stelle ich es mir vor als "Bequemlichkeit verachten". Wir scheinen unermeßliche Beträge an Energie dafür einzusetzen, bequem zu bleiben, während der schnellste Weg aus dem Schmerz heraus in Wahrheit besteht darin, die Orte ausfindig zu machen, wo wir uns unbequem fühlen, zu entscheiden, dorthin zu gehen, die Gefühle zu fühlen und sie zu entlasten. Als CounselerInnen müssen wir "unsere/n KlientIn darin assistieren, Schmerz zu fühlen", wie David Jernigan es neulich ausdrückte. Sicherlich, den schmerzhaften und scheinbar trostlosen Ort aufzusuchen, mag nicht nach viel Vergnügen aussehen, aber es ist bestimmt der schnellste Weg ein gefrorenes Bedürfnis loszuwerden. Und die Belohnung dafür ist die Freiheit, weiter zu schreiten und unsere Energien in unsere Bemühungen zu stecken, in Orte und Menschen, wo wirklicher Gewinn und Befriedigung erreicht werden können. Vorwärts! (Adelante!)

Rational Island Publishers (Hg.): Present Time. Nr. 84, Juli 1991, Seattle.

Übersetzt von Ingo Schudak, Uta Allers und Gudrun Onkels


Last modified: 2019-05-02 14:41:35+00