Einem jungen Menschen mit einer Sucht nach Zucker helfen

Von Ellie Hidalgo, Los Angeles

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Während eines einwöchigen Besuchs bei meinem Bruder, seiner Frau und ihren drei kleinen Kindern hatte ich die Gelegenheit, über meine jüngste Nichte und ihre Sucht nach Zucker nachzudenken. Mehrmals am Tag stand S—, die zweieinhalb Jahre alt war, in der Mitte der Küche und verlangte Süßigkeiten. Wenn ihre Mutter oder ihr Vater sich weigerte, schrie sie lauthals: „Ich will Süßigkeiten haben!“ Ihre frustrierten Eltern gaben ihr schließlich etwas Süßes, um sie zu beruhigen. 

Am Anfang restimulierte mich S—s Verhalten, und ich war wütend auf sie. Viele Familienmitglieder, mich eingeschlossen, hatten stark gegen Zucker gekämpft, und ich fand es entmutigend mitanzusehen, wie der Zwang nach Süßigkeiten an die nächste Generation weitergegeben wird. Es gibt auch Diabetes in meiner Familie, deshalb waren auch die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen bedeutsam. 

Nach einigen Tagen entschied ich mich, meine Restimulierung mit S—zu beenden und zu sehen, ob ich über sie nachdenken könnte. Ich fing an ihre Interaktionen mit ihrem älteren Bruder und ihrer älteren Schwester mit mehr Aufmerksamkeit und Interesse zu beobachten. Es fiel mir auf, dass wenn eines ihrer Geschwister sie schubste oder ihr ein Spielzeug wegnahm oder ihr irgendwas in einem harten Ton sagte, sie etwas besorgt aussah und dann nach Süßigkeiten fragte. Die Erwachsenen hatten die jungen Menschen ermutigt, gut miteinander umzugehen, aber im Laufe von Dutzenden von Interaktionen miteinander war eines der älteren Geschwister von S— frustriert und behandelte sie nicht gut.

 Das nächste Mal, als sowas passierte, war ich zufällig die einzige Erwachsene im Zimmer. S— guckte sich um und fragte mich, ob ich Süßigkeiten hätte. Während ich schnell über einen möglichen Widerspruch nachdachte, einen Widerspurch dagegen, dass sie zurückgewiesen oder schlecht behandelt wird, kramte ich langsam nach Süßigkeiten in meinen Hosentaschen herum und sagte ihr, ich hätte keine, aber dass ich etwas anderes hätte. „Möchtest du es haben?“ flüstere ich. „Ja!“ sagte sie und ihre Augen interessierten sich für das, was in meiner Tasche sein könnte. „Willst du es wirklich haben?“ fragte ich nochmal. „Ja! Ja!“ antwortete sie.

Dann hob ich sie in meine Arme und in einer Stimme des Sesamstraßen- Krümelmonsters schmetterte ich heraus: „Küsse!!!“ Ich machte hauptsächlich Luftküsse, um sie nicht zu überwältigen, aber ein paar Mal küsste ich ihre Stirn.

S— kicherte und kicherte. Als sich sie heruntersetzte, fragte sie, ob wir das Spiel nochmal spielen könnten. „Klar“, sagte ich. Und sie fing von vorne an mit der Frage: „Hast du Süßigkeiten?“

Wir machten die ganze Routine wohl zehn Mal durch, während ihr Bruder zuguckte und mitlachte. Schließlich fragte er, ob er mitspielen könnte, und so wechselte ich die Kinder ab. Ein paar Minuten später machte S—s Schwester das Spiel auch mit.

 In der Woche kam S— mehrmals auf mich zu, um zu fragen, ob wir das Spiel nochmal spielen könnten. Sie fand mich irgendwo und fragte ganz ruhig, ob ich irgendwelche Süßigkeiten hätte. Es war wunderbar, ihr meine Liebe und Aufmerksamkeit anbieten zu können und mit ihr zu spielen, wenn sie Schwierigkeiten hatte.

 Obwohl ein paar Minuten von Lachen und Nähe nicht das ganze Zuckerverlangen von S— auflösen konnten, war es doch toll wahrzunehmen, dass ich über das Ringen mit Essen in Bezug auf einen jungen Menschen nachdenken konnte, und dass ich Humor und Spielen als Hilfsmittel benutzen konnte. Das bot mir auch einen hoffnungsvollen Blick auf die Möglichkeit, über ein hartnäckiges Zuckernaschen-Familienmuster nachzudenken und es zu unterbrechen.

Rational Island Publishers (Hg.): Present Time. Nr. 143, April 2006, S. 9, Seattle.

Übersetzt von Uta Allers und Ralf Wagner


Last modified: 2019-05-02 14:41:35+00