Unsere Schmerzerfahrungen nicht weitergeben

Aus einem Vortrag von Tim Jackins auf einer Workshop-Reihe zur Schwarzen Befreiung und zur Gemeinschafts-Entwicklung, Sommer 2004

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Ein Gesichtspunkt des Umstandes, verletzt zu werden und der Aneignung von Schmerzmuster, liegt darin, dass fast alles, was in den Augenblicken des Schmerzgefühls geschieht – wie wir etwas fühlen; was alles um uns herum gerade passiert; wie alle anderen sich sonst noch verhalten, einschließlich der Person, die gerade ein Schmerzmuster an uns ausagiert – in unser Denken gelangt und zu einem Teil der Schmerzaufzeichnung wird. Die Aufzeichnung umfasst nicht nur die Rolle, das Angriffsobjekt zu sein, sondern ebenso all das, was die Person, die uns verletzt, sonst noch getan hat. Wir nehmen die Unterdrückerseite gleichfalls in uns auf.

Das ist es was Schmerzaufzeichnungen derart ansteckend macht. Wenn wir in einer Schmerzerfahrung ausschließlich die Rolle des Angegriffenen (als klein, als Opfer) eingenommen hätten, würden wir uns anderen Leuten gegenüber nicht in so unterdrückerischer Weise verhalten, wie wir es tun. Wir könnten restimuliert und manipuliert werden, und bestimmte Dinge würden passierten, aber wir würden nicht die Rolle des Überlegenen, die Unterdrücker-Rolle, einnehmen und sie an anderen Leuten ausagieren, and andere damit anstecken. Diese Art von „Infektion“ in einem Schmerzmuster würde mit uns aufhören. Wir würden sie nicht an unsere Kinder oder an andere Leute um uns herum weitergeben. Wir würden sie nicht an einander ausagieren und die Störung wiederspiegeln und am Laufen halten. Aber wir tun es. Wenn auch die meisten von uns gerne daran festhalten, sich verletzt und klein und angegriffen zu fühlen, agieren wir manchmal das Gemeine unserer Schmerzaufzeichnungen aus. Dies kann sogar dann passieren, wenn wir uns als die Opfer fühlen.

Manchmal haben wir fast keinen Blick von außen dafür – es ist verwirrend, wenn wir mitten in unseren Schmerzaufzeichnungen stecken. Wenn wir angegriffen wurden, oder uns so fühlen, als wenn wir angegriffen wurden, und aufgebracht sind und uns voller Sebstgerechtigkeit fühlen, reagieren wir zuweilendarauf so, dass wir aufgrund unserer Schmerzaufzeichnung, aus der Rolle des Überlegenen heraus handeln, und die Verletzung an jemand anderen weitergeben.

Es ist verführend, an unseren Verletzungen lediglich aus der Sichtweise eines Hilflosen zu arbeiten, der von jemand Machtvollen verletzt wurde. Dies ist verständlich und wir können von diesem Standpunkt aus damit beginnen, an einer Verletzung zu arbeiten. Dies ist jedoch eine begrenzte Sichtweise; es ergibt kein vollständiges, genaues Bild. Wenn wir diesen Standpunkt nicht verlassen, sind wir immer noch zu sehr im Unklaren darüber, was geschah, um alles davon zu entlasten. Obwohl wir uns noch wie der-/diejenige fühlen, der/die klein, machtlos und angegriffen wurde, ist dies ein eingeforenes Gefühl aus der Vergangenheit. Wir können uns von Schmerzaufzeichnungen nicht frei kämpfen und sie entlasten, es sei denn, wir lassen diese Einstellung zu irgendeinem Zeitpunkt hinter uns.

Dieser aufgezeichnete Standpunkt ist eine zu unvollständige Lesart dessen, was hier abläuft. Diese Sicht zu behalten ist zu eingeschränkt, wenn wir Macht über die Schmerzaufzeichnungen zurückgewinnen wollen. Es bedeutet nicht, dass unsere Gefühle unberechtigt sind. Wir sind zu allen Gefühlen berechtigt, die dadurch ausgelöst werden, was uns geschieht. Es ist bloß so, dass wir dazu neigen, unsere Verletzungen unachtsam auf andere zu übertragen, bis wir fähig sind, zwischen unseren Gefühlen aus der Vergangenheit und dem/der, der/die wir in der Gegewart sind, zu unterscheiden.

Rational Island Publishers (HG.): Present Time. Nr. 138, Januar 2005, S. 44, Seattle.


Übersetzt von Ingo Schudak, Uta Allers und Gudrun Onkels


Last modified: 2019-05-02 14:41:35+00