Beim Lehrer*innen- und Leiter*innenworkshop

in New York, USA im Juni [2000?] beantwortet Tim Jackins eine Frage zum Thema Künstler*innen

Frage: Könntest du etwas zur Rolle von Künstler*innen in dieser Gesellschaft sagen und dazu, wie sie sich im Laufe unseres Wiederauftauchens verändern wird?

Tim: In dieser Gesellschaft bist du als Künstler*in ein Handelsgut: du produzierst für den Verkauf. Obwohl du dabei etwas mehr Freiheit genießt, du selbst zu sein als die meisten anderen Leute – solange du die Verhältnisse nicht in Frage stellst. Wenn du auf eine Weise produzierst, die letztendlich irgendeine Komponente des Kapitalismus unterstützt, dann wirst du vereinnahmt. Wenn du dies nicht tust, dann kannst du nur am Rande existieren und bekommst nicht leicht Zugang zu anderen Menschen.

Deine Aufgabe ist es, zu beobachten, alles wahrzunehmen, und deinen eigenen Verstand und deine einzigartige Sichtweise zu nutzen, um ein Bild zu rekonstruieren, das einen der Aspekte der Realität klar darstellt und den Menschen öffentlich zugänglich macht, so dass sie an diese Realität erinnert werden. Deine Aufgabe ist es, die Menschen dazu herauszufordern, in größeren Dimensionen zu Denken, ihnen dabei zu helfen, einen Einblick in verborgene Beziehungen und Möglichkeiten zu bekommen, einen Blick auf das, was sich vor ihnen auftut, sowie auch auf das, was hinter ihrem Rücken passiert ist.

Ein Teil der Aufgabe von Künstler*innen ist es, sechs Milliarden Künstler*innen zu generieren. Es geht nicht nur darum, mal zu "sehen was ich tun kann, woran ich die Menschen erinnern kann", sondern die Botschaft zu senden, dass alle Menschen an dieser Unternehmung teilhaben können, sich künstlerisch zu betätigen und damit ihre Gedanken mitzuteilen. Du hast die Chance, andere Künstler*innen zu ermutigen.

Natürlich hast du es in dieser Gesellschaft nicht so einfach, mit anderen Künstler*innen auf diese Weise zusammenzuarbeiten. Der Kapitalismus suggeriert dir, dass dein Überleben davon abhängt, dass andere Künstler*innen wiederum nicht überleben. So wird ein Wettbewerb angezettelt. Der korrumpiert dich und beeinflusst, was du aussagen willst. Er macht dir Angst davor, deine Sicht auf die Dinge voll und ganz zu zeigen. Du hast das Gefühl, dass du sie abschwächen musst, damit du Personen, die dir aufgrund ihrer Stellung das Überleben oder die Popularität sichern können, nicht unbequem wirst.

Der Kapitalismus agiert überall auf diese Weise: bei allem, was irgend jemand mit ihrer_seiner Intelligenz und Fähigkeit zu tun versucht, um einer anderen Person etwas zu zeigen. Er macht das auch mit Künstler*innen so. Das hat nichts mit Kunst zu tun. Und auch nichts mit der großen, wichtigen Rolle, die Künstler*innen in der Gesellschaft spielen sollten, nämlich zu leiten, indem sie Perspektiven aufzeigen.

Wir brauchen Menschen, die sich hinsetzen und beobachten was los ist, und die es dann aus ihrem Blickwinkel darstellen. Wir brauchen unbegrenzt viele dieser Menschen. Es sollte sie in jedem Wohnviertel geben, in jedem Häuserblock. Es sollte da jemand sein, die_der regelmäßig sein gerade fertiges Kunstwerk auf ihre_seine Türschwelle stellt, so dass alle, die vorbeigehen, wissen, dass es am z. B. am Dienstag wieder soweit ist und sie dann in den Genuss diese neuesten Einblicks in die Realität kommen werden. Und mit den Kommunikationskanälen, die wir jetzt haben, kann die

Reichweite noch größer werden.

Wie bei jedem anderen Vorstoß werden sich klarere und klarere Bilder immer weiter verbreiten, und zwar dorthin, wo sie immer mehr Menschen inspirieren können. Je weiter du dich vorwärts kämpfst – sowohl durch deine steigende Meisterschaft der Kunstfertigkeit selbst, als auch durch deinen Kampf gegen die Schmerzaufzeichnungen, die dich zurückhalten – desto größer und besser werden deine Darstellungen der Wirklichkeit werden. Es gibt da zunächst eine Lehrzeit, während der du üben kannst, während der dein Bild noch nicht klar genug ist, um über die Grenzen der unmittelbaren Nachbarschaft hinauszustrahlen. Aber dann bricht es aus der Nachbarschaft aus und kommt in Bewegung. Das Internet wäre ein gutes Transportmittel dafür. Menschen könnten sich in eine Million verschiedener Bilder einklinken, von einer Million verschiedenen Künstler*innen, und zwar wann auch immer sie einen Moment Zeit haben, dies zu tun.

 


Last modified: 2020-06-11 23:22:31+00