Bewusst handeln
Von Tara Lynne Jones, USA
Vor zwei Wochen bekam ich einen „obszönen“ Anruf und habe das Folgende gemacht:
Als der Anrufer anfing mich sexuell anzusprechen, habe ich den Hörer leise auf den Tisch gelegt und bin zurück ins Wohnzimmer gegangen, habe mich hingesetzt und weiter im Ms. Magazine gelesen. (Mich amüsiert die Ironie dieser Situation.) Ich hatte noch keine Vorstellung, wie ich mit dem Ganzen umgehen würde; ich wusste nur, dass ich ihm einerseits nicht zuhören wollte, und dass ich andererseits auch nicht einfach auflegen wollte. Ich war mir auch bewusst, dass mich dieser Anruf überhaupt nicht störte. Meine Ruhe gab mir die Selbstsicherheit, es würde mir gelingen, mit diesem Vorfall intelligent umzugehen.
Nach ungefähr fünf Minuten nahm ich den Hörer wieder auf und fragte ihn, ob er jetzt fertig sei. Es verneinte und daraufhin sagte ich, „Na dann...“ und legte den Hörer wieder auf den Tisch. Es fiel mir ein, dass er beim vorigen Mal vielleicht nicht gemerkt hatte, dass ich nicht zugehört hatte, deshalb bin ich zum Klavier gegangen, habe ein kurzes Stück gespielt und bin dann wieder zum Telefon zurückgekehrt.
Als ich ihn dieses Mal fragte, ob er fertig sei, bejahte er und fügte hinzu, „Waren Sie das eben auf dem Klavier? Sie spielen sehr schön.“ Er bat mich noch mehr für ihn zu spielen. Ich lehnte ab. Stattdessen hatten wir ein langes Gespräch, das ungefähr so verlief:
„Ich möchte Sie was fragen. Warum machen Sie diese Anrufe?“
„Weil ich mich einsam fühle.“
„Das macht doch keinen Sinn. Durch diese Anrufe werden Sie mit Sicherheit keine neuen Freunde gewinnen. Die meisten Frauen legen doch auf und die anderen schreien Sie wahrscheinlich an. Es wäre doch besser, wenn Sie einfach Leute anrufen würden und ihnen sagen würden, wie einsam Sie sich fühlen. Sagen Sie, dass Sie jemanden brauchen, mit dem Sie reden können.“
„Hätten Sie mit mir geredet, wenn ich Ihnen das gesagt hätte?“
„Das weiß ich nicht. Es ist mir jetzt erst eingefallen. Aber es wäre sicher besser gewesen, als was Sie jetzt machen.“
„Ja, stimmt. Es tut mir sehr, sehr Leid. Es ist wirklich abstoßend, was ich da mache.“
„Hey, Sie brauchen sich dafür nicht fertig zu machen. Jeder macht dumme Sachen, wenn er leidet. Wenn Sie nicht irgendwie in der Vergangenheit verletzt worden wären, dann würden Sie nicht so verwirrt sein, wenn Sie sich jetzt einsam fühlen.“
„Sie sind ein sehr guter, wohlwollender Mensch. Es ist mir noch nie passiert, dass mich jemand so nett behandelt hat.“
„Sie sind genau so gut wie ich. Im Grunde genommen wollen Sie ja Gesellschaft. Das ist eine ganz normales menschliches Bedürfnis. Sie sind einfach verwirrt und treffen deshalb ungünstige Entscheidungen. Das macht Sie nicht zu einem schlechten Menschen; es heißt nur, dass Sie durcheinander sind.“
Wir haben noch eine Weile geredet, aber das war das Gespräch im Wesentlichen.
Es war eine wunderschöne Erfahrung von der Vorstellung, dass es sich im Grunde genommen um einen guten Menschen handelt, nicht abzurücken. Es war auch ein großer Widerspruch zu meinem Gefühl, dass ich eine schwierige Situation nur überstehe, wenn ich vorher genau plane, was ich sage und tue. Ich wollte nur auf die möglichst rationalste Art und Weise handeln und habe in jedem neuen Moment meinem Verstand vertraut. Es ist mir auch aufgefallen, dass mein „Denken“ in dieser Situation nicht dem Denken entsprach, wie es mir beigebracht wurde: mit gerunzelter Stirn, usw. Es war mir nicht mal bewusst, dass ich beim Denken war. Es fühlte sich viel mehr wie Intuition, Inspiration oder sogar Reflex an. Aber genau das ist wohl von Schmerzmustern unbelastetes Denken: müheloses, spontanes, kreatives Problemlösen.
Rational Island Publischers (Hg.): Present Time. Nr. 114, Januar 1999, S. 78, Seattle.
Übersetzt von Uta Allers und Julia Haarbücker